Kinder im ehemaligen Rotlichtmilieu: Die irrwitzige Idee vom Familienwohnen am Mindener Rampenloch

von | 19. Nov. 2018

Wenn dieser Offene Brief erscheint, schreiben wir das Jahr 2018. Ganz Deutschland ächzt unter der Wohnungsnot. Allüberall in den Städten und Gemeinden fehlt Wohnraum. Bezahlbarer Wohnraum. Insbesondere für Familien.

Also, erste große Denksportaufgabe: Was muss getan werden, wenn Wohnraum fehlt?

Man muss wohl nicht unbedingt Städtebau-Experte sein, um diese Frage beantworten zu können. Wenn Wohnraum fehlt, muss Wohnraum geschaffen werden. So weit, so wenig überraschend.

Deshalb kommt das Thema Wohnraum natürlich auch bei der Neugestaltung der Oberen Altstadt in Minden immer wieder zur Sprache. Gar nichts gegen einzuwenden.

Eines der historisch markantesten Quartiere der Oberen Altstadt ist das Areal am Rampenloch. Noch bis zum Frühjahr 2018 lief hier Rotlichtbetrieb. Man mag diese Art Gewerbe moralisch verwerflich finden – oder auch nicht: Fakt ist, solche Bereiche gibt’s wohl in jeder Stadt. So weit jedenfalls auch nicht überraschend. 

Und doch ist etwas sehr besonders an diesem Rampenloch.

So besonders, dass es mindestens außergewöhnlich ist. Vielleicht sogar einzigartig – in Deutschland, eventuell sogar in Europa oder weltweit. Dann wäre es eines der extrem wertvollen Alleinstellungsmerkmale, denen Städte verzweifelt hinterherhecheln, weil es sie heraushebt aus der breiten Masse.

Bordellbetrieb auf militärische Weisung mit offiziellem Segen des Innenministeriums

Der Rotlichtbetrieb am Rampenloch geht im Ursprung mittelbar zurück auf militärische Anweisung. Das ist ziemlich genau 200 Jahre her. Damals hatte das preußische Militär das Sagen in der Stadt. 1817 hatte der damalige Mindener Festungskommandant Generalmajor Ernst Michael von Schwichow die Idee für einen offiziellen Bordellbetrieb in Minden. Allerdings – und das ist verständlich – wollte der Herr Generalmajor eine derart heikle Entscheidung keinesfalls alleine treffen.

Also stellte er entsprechenden Antrag beim Innenministerium in der Reichshauptstadt Berlin. Dort befasste man sich mit der Angelegenheit. Und beschied von Schwichow schließlich im Jahre 1823, dass sein Plan genehmigt sei. Damit erteilte der Staat Preußen in Gestalt des Königlichen Ministerium des Innerns dem Bordellbetrieb offiziell seinen Segen. Ab jetzt war das Geschäft in Minden staatlich genehmigt und geregelt. Die ganzen Details dieser Geschichte würden hier zu weit führen, aber man kann das zum Beispiel bei Wikipedia nachlesen.

Das preußische Staatswesen, das wie kein zweites für Zucht und Ordnung, für Gehorsam und Hierarchie steht, regelt einen schlüpfrigen Bordellbetrieb per Verwaltung. Womöglich erzählt diese Begebenheit mit ihrer dramatischen Fallhöhe zwischen höchstem, abstraktem staatlichen Regulierungswunsch einerseits und zutiefst menschlichen Abgründen andererseits viel lebendiger von der Idee des preußischen Verwaltungsapparats als Hunderte Pickelhauben in Museen es jemals könnten.

Die Integrität von Orten wahren als stadtplanerischer und architektonischer Anspruch

Das Rotlichtareal am Mindener Rampenloch ist letztes Relikt dieser schillernden Entscheidungen einer prägenden Stadtepoche. Geschichtsträchtiges Areal.

Mittlerweile befindet es sich im Zwischenerwerb der Stadt Minden. Lobenswert. Denn so hat die öffentliche Hand Einfluß darauf, wie sich das Gelände künftig entwickeln wird, statt das windigen Immobilienheinis zu überlassen.

Im Rahmen der Gesamtentwicklung Obere Altstadt befassen sich zwischenzeitlich auch professionelle Stadtplaner mit dem Areal. Und damit kommen wir zur zweiten großen Denksportaufgabe. 2018, geschichtsträchtiges Gelände, mitten in der Altstadt, neu zu beplanen – raten Sie mal, auf welche brillante Idee die Profis gekommen sind, was man hier schaffen könnte?

Tipp! Wenn Sie oben die erste Denksportaufgabe schon richtig gelöst haben, machen Sie einfach copy-paste. Sehr viel mehr scheint mancher Stadtplaner auch nicht zu machen. Denn richtige Antwort natürlich: Wohnraum könnte man am Rampenloch schaffen. Da kann man nur sagen: Prima, dass wir Experten haben. Wo sollten sonst diese genialen Ideen herkommen?

Präsentiert wurden die Vorschläge bei der „Zweiten Bürgerveranstaltung für das Quartier Obere Altstadt“ am 30. Oktober 2018 in der Aula des Ratsgymnasium. Das Mindener Tageblatt berichtete darüber in seinem Artikel „Dicht an dicht – Wie sieht die Zukunft der Oberen Altstadt aus?“ am 5. November 2018.

Ich will dem Leserbrief nicht vorgreifen, mit dem ich mich dazu äußern musste. Sie finden ihn unten im Original-Wortlaut. Nur so viel: Nach meinem Verständnis ist es Aufgabe unserer Zunft, Architekten ebenso wie Stadtplaner, bei allem, was wir ausdenken, beplanen, aufbauen, die Integrität von Orten zu wahren – auch die historische Integrität. 

Geschichte, die sich wie eine Folie über das Neue legt, die präsent ist, spürbar, erkennbar. Und das Neue, das sich – bei allem Selbstbewusstsein, bei aller Moderne – respektvoll dem Ort anpasst. Im Idealfall gelingt dann eine Symbiose aus Vergangenem und Künftigem. Lösungen, die auf sehr zeitgemäße Weise vermitteln zwischen Epochen, zwischen gestern und morgen.

Familienwohnen im Puffquartier in Zeiten von #metoo – na toll, super Idee

Ob Familienwohnen im ehemaligen Bordellquartier wirklich die beste, die sinnvollste, die passendste Idee ist, das Areal am Rampenloch künftig zu nutzen?

Ich halte es schlichtweg für die banalste, die dümmste, die denkbar schlechteste Idee. Aus vielerlei Gründen. Dazu zählt auch: Entweder entreißt man dem Ort seine Historie, damit sich auch Kinder und Jugendliche hier künftig ohne Scham und Schaden frei bewegen können. Oder wir bekommen Diskussionen, die in Zeiten von #metoo sowas von dermaßen unpassend sind …

Wer am Rampenloch Wohnungen allen Ernstes für die sinnvollste, die beste Idee hält, hat keinen blassen Schimmer von diesem Ort. Nicht nur, dass damit kein wirksamer Beitrag zur Lösung der Wohnungsnot geleistet wird – es wird gleichzeitig auch das besondere Potenzial verschenkt, das dieses Areal für die Altstadt und für die ganze Stadt Minden haben könnte.

Meine Meinung: Es wird Zeit, bessere Konzepte zu fordern.

Hinweis: Das Foto oben, das den Blick vom Königswall auf das Areal Rampenloch zeigt, ist natürlich eine Foto-Montage – zumindest was die Bemalung der Hausfassade betrifft. Das ovale „Rampenloch-Zeichen“ in der Mitte ist in der Realität vorhanden – der Rest wurde hinzuerfunden, um die Absurdität vom Familienwohnen im Puffquartier pointiert zu visualisieren.

Leserbrief zum Artikel „Dicht an dicht“ im Mindener Tageblatt vom 5. November 2018

Erschienen in der Printausgabe vom 15. November 2018
(Hinweis: Schwarz gesetzte Passagen im folgenden Text geben Textstellen wieder, die in der Online-Version des Leserbriefs zwar enthalten, in der veröffentlichten Print-Version aber von der Redaktion gekürzt wurden, hier aber der Vollständigkeit halber wiedergegeben werden.)

Man muss die Stadtverwaltung loben, dass sie den Entwicklungsprozess der Oberen Altstadt unter Bürgerbeteiligung angeht. Ich habe selbst an der zweiten Bürgerveranstaltung im Ratsgymnasium teilgenommen und die Diskussionen verfolgt. Dass an einem solchen Abend ganz aktuelle Sorgen und Nöte wie Wohnraum und Parkplätze den Diskurs prägen statt der großen, visionären Würfe, liegt wohl in der Natur der Sache einer solchen Veranstaltung.
 
Dennoch gilt für mich als Architektin bei jeder Art von Planung, dass die entwickelten Konzepte dem besonderen Charakter eines Ortes Rechnung tragen müssen. Wenn zum Beispiel am Rampenloch immer wieder von „Wohnen für Familien“ die Rede ist, muss die Frage erlaubt sein, ob das wirklich das beste und sinnvollste Konzept für diesen Ort ist. Immerhin handelt es sich hier um eine Straße, die auf sehr besondere Weise mit der Geschichte Mindens verbunden ist. Im Mittelalter Abfallgrube, später Quartier der Aussätzigen, dann (bis vor wenigen Jahren) Rotlichtviertel auf Geheiß preußischer Militäroberen. 
 
Man mag von dieser Art Nutzung halten, was immer man will. Fakt ist, dass sich darin ein sehr besonderes Stück Stadtgeschichte widerspiegelt. Woraus sich für künftige Nutzungskonzepte die Pflicht ableitet, dass die Historie darin weiter lebt und erhalten bleibt.
 
Und jetzt siedeln wir dort also Familien an? 
 
Wie soll man sich das genau vorstellen? Mama und Papa wohnen mit ihrer schulpflichtigen Tochter unter der Adresse „Rampenloch 5“? Von den Mitschülern wird das Mädchen gehänselt, wenn sie ihre Adresse nennt? Auf dem Heimweg kommt sie jeden Tag an Denkmal oder Erinnerungstafeln vorbei, die an die frühere Nutzung erinnern? Da muss man sich nicht wundern, wenn das Mädchen abends ihre Eltern fragt: „Mami, was ist eine Hure? Papi, was sind Freier“? 
 
Wollen wir allen Ernstes, dass Kinder so aufwachsen? 
 
Meine Meinung: Es müssen bessere Konzepte für das Rampenloch auf den Tisch. Planer sollten sich mehr Gedanken machen, was auf dem Gelände entstehen kann. Denn wer hier gewöhnliches Wohnen plant, hat den Ort nicht verstanden. Er (oder sie) verkennt die besondere Historie des Areals genauso wie dessen Potenzial für die Stadt. Sondern unterwirft sich ganz banal einfach nur den Gesetzen des heutigen, tagesaktuellen Wohnungsmarkts.

Astrid Engel, Minden

Astrid Engel