Elfmeter für Mindens Politik in Sachen Stadtentwicklung

von | Jul 8, 2019

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Gastbeitrag des Instituts für Strategie & Planung

HafenCity Hamburg und Rotlichtgasse Rampenloch: Hinkt der Vergleich (den ich hier aufgestellt hatte) nicht allein schon angesichts des schieren Größenunterschieds?

Diese Frage wurde mir gleich in mehreren Gesprächen der vergangenen Wochen gestellt.

Klare Antwort: Nein, hinkt nicht – wenn man beide Ausgangslagen aus rein strategischer Sicht unter die Lupe nimmt.

Denn strategisch betrachtet spielt es keine Rolle, ob ein Elfmeter in der Champions-League gegeben wird oder in der 3. Kreisklasse. Die Regeln sind die gleichen.

Elfmeter bleibt Elfmeter: die Chance, ein Spiel zu drehen. Auf dem Bolzplatz ebenso wie in der Arena.

Strategieberater Edgar Wilkening

Edgar Wilkening lebt in Hamburg und Minden an der Weser. Als Strategie-Entwickler und Kommunikations-Experte bundesweit gefragt bei Marken und Unternehmen.

Kopf des in Gründung befindlichen Instituts für Strategie & Planung. Hat Anfang der Nullerjahre in verschiedenen Konstellationen am Entstehen der Hamburger HafenCity mitgewirkt.

E-Mail: ew@strategieundplanung.de

Werden sie das Ding reinzimmern? Stehen überhaupt die richtigen Leute aufm Platz? Sind die wirklich so fit, wie sie tun?

Minden hat mit dem Rampenloch stadtplanerisch einen Elfmeter vor den Füßen liegen. Einen echten game changer. Die Chance, das Spiel zu drehen. Was für eine Gelegenheit! Wow, das wünscht sich wohl jede Stadt: solch eine Chance vor die Füße gelegt zu bekommen!

Fans und Freunde von Minden fiebern schon: Kriegt die Stadt die Pille rein? Wird sie alles daran setzen, den Elfmeter zu verwandeln? Hat sie sich gut darauf vorbereitet und trainiert?

Sind die richtigen Spieler auf dem Feld? Sind sie fit, mutig, entschlossen? Trauen sie sich das zu? Und wer ist der oder die Beste, um das Ding klarzumachen? Denn eins steht fest: So eine Chance kommt nicht alle Tage! Bei Städten höchstens ein Mal alle paar Generationen. Umso wichtiger, jetzt keine Fehler zu machen …

Klingt plausibel? Ist es auch. Und zwar unabhängig davon, in welcher Liga die Stadt Minden gerade spielt: regional, überregional oder international. Nicht die Größe der Arena ist entscheidend beim Elfmeter, sondern die strategische Ausgangslage zu erkennen und dann so gut wie möglich zu nutzen.

Im Fußball klingt das völlig logisch: Elfmeter versteht ja jeder – selbst mit fünf Dosen Bier im Kopp noch. Bei großen stadtplanerischen Themen ist die Lage strategisch zwar vollkommen vergleichbar, aber offenbar bei weitem nicht so leicht zu verstehen. Es gehört schon ein bissel Grips dazu, ein bissel Konzentration – und dass man die Dose Bier im Kühlschrank lässt.

Bevor also der Schuss losgeht (und damit er nicht nach hinten losgeht), lassen Sie uns kurz einen Blick auf eine mathematische Gleichung werfen, die hinter dem Elfmeter steht. Und ihn überhaupt erst zu einer solch besonderen Chance macht.

Vier Variablen in einer festen Formel: Die Strategie-Gleichung beim

ELFMETER

Variable A
BASIS VERGANGENHEIT


AUS DEM SPIELVERLAUF
Handspiel, Foul – irgendetwas Gravierendes ist passiert. Diese Vergangenheit erst schafft die Basis zum Elfmeter.

plus Variable B
TIME-FREEZE


DIE ZEIT WIRKT WIE EINGEFROREN
Der normale Spielverlauf ist unterbrochen. Die Uhren scheinen stillzustehen. Gelegenheit zur Besinnung und Orientierung.

plus Variable C
GEGNER KALTGESTELLT


ALLE OPTIONEN ALLEIN BEIM SCHÜTZEN
Eine vollkommen kontrollierte Situation. Alle Gegner zu Passivität gezwungen. Nur einer, der den Verlauf aktiv gestaltet.

gleich Variable D
EINMALIGE CHANCE ALS SUMME


POTENZIAL ZUM GAME CHANGER
Die Chance, den Lauf der Dinge entscheidend zu verändern – zum eigenen Vorteil. Etwas, das man nicht vergeigen sollte.

Die einmalige Chance, die in einem Elfmeter steckt, ergibt sich aus einer ganz besonderen Konstellation mehrerer Faktoren. Die lassen sich wie in einer mathematischen Gleichung darstellen: A plus B plus C gleich D. Es ist die Strategie-Formel des Elfmeters.

Variable A: Etwas aus der Vergangenheit

Keine Mannschaft bekommt einen Elfmeter zugesprochen, ohne dass irgendetwas Bemerkenswertes vorgefallen ist. Handspiel? Schweres Foul? Strafraum-Foul? Auf jeden Fall etwas von gravierender Natur. Und ohne diese Vorkommnisse in der Vergangenheit des Spiels gäbe es gar keine Grundlage für einen Elfmeter: die Gelegenheit zum Torschuss mit freiem Feld.

Variable B: Die Zeit scheint wie eingefroren

Der Schiedsrichter hat das Spiel unterbrochen. Rein physikalisch läuft die Zeit zwar weiter, doch gefühlt scheint sie zu stehen. Der Schiedsrichter ordnet derweil die Bedingungen für den weiteren Verlauf, schafft den Rahmen. Alle Beteiligten können die Unterbrechung nutzen, um sich zu sammeln, zu konzentrieren und neu zu orientieren. Denn erst, wenn der Pfiff kommt, geht es weiter. Vorher passiert nichts.

Variable C: Eventuelle Gegner sind ausgeschaltet

War der Spielverlauf vor dem Elfmeter vollkommen offen, den freien Kräften überlassen, dem Chaosprinzip folgend, so hat sich das mit dem Elfmeter grundlegend geändert. Jetzt liegt eine vollkommen kontrollierte Situation vor. Und das weitere Geschick explizit in der Hand eines Einzelnen, der für seine Interessen, seine Mannschaft einen klaren Vorteil hat. Denn alle anderen Kräfte bzw. Spielteilnehmer, insbesondere Gegner, sind momentan schachmatt gesetzt und können (bis auf den Torwart) keinen weiteren Einfluss ausüben.

Summe D: Eine Chance, wie sie so schnell nicht wiederkommt

Freies Schussfeld zum Tor – potenzielle Gegner kaltgestellt – Ruhemoment zum Sammeln und Konzentrieren – vollkommen kontrollierte Umgebung – erst aus dieser Konstellation ergibt sich die besondere strategische Chance, die der Elfmeter bedeutet. Etwas, das man keinesfalls vergeigen sollte! Denn Spieler und Zuschauer – alle wissen: So eine Chance kommt nicht so schnell wieder.

HINWEIS
Dieser Text ist erschienen im Umfeld weiterer Artikel zum Thema. Die einzigartigen stadtplanerischen Chancen des Rampenloch-Areals z.B. werden hier beleuchtet.

Der strategische Vergleich zwischen Rampenloch Minden und HafenCity Hamburg befindet sich hier.

Die erforderlichen Schritte für einen sinnvollen Entwicklungsprozess des Areals werden hier benannt.

Dass die wirtschaftlichen Zahlen am Rampenloch auf tönernen Füßen stehen, wurde hier untersucht.

Identische Strategie-Situationen – bei einer Fußball-Weltmeisterschaft genauso wie beim Spiel der Regionalkicker

Ob der Elfmeter vor 200.000 fiebernden Fans in einem WM-Endspiel stattfindet oder vor 200 Zuschauern in der Regionalliga – strategisch ist es für die jeweiligen Mannschaften immer die gleiche Ausgangssituation – aus strategischer Sicht vollkommen identisch.

Ja, natürlich wird der Elfmeter-Schuss im WM-Finale eine andere konkrete Umsetzung haben als der in der Regionalliga – ja, hoffentlich doch! Mehr Wumms. Mehr Trick. Mehr Effet. Mehr von allem. Dafür befinden wir uns doch im WM-Finale der besten Fußballer der Welt und nicht aufm Bolzplatz nebenan.

Aber in ihrer inneren Struktur, in der Art und Weise, wie beide Elfmeter aufgebaut sind, welcher Logik sie unterliegen, wie sie strukturell funktionieren – da sind beide vollkommen gleich. Wer das leugnen würde, wäre dumm.

Und damit sind wir zurück beim Vergleich Rampenloch – HafenCity. Natürlich spielen beide Areale in unterschiedlichen Ligen – ja, klar doch! Aber in ihrem Innersten funktionieren beide nach den gleichen Prinzipien.

Denn beide, HafenCity wie Rampenloch, beziehen ihren Wert für die Stadt aus exakt der gleichen Strategie-Formel wie der Elfmeter: Variable A plus Variable B plus Variable C ergibt in Summe D. Wer rechnen kann, ist strategisch also klar im Vorteil.

Vier Variablen in einer festen Formel: Die Strategie-Gleichung beim

RAMPENLOCH

Variable A
BASIS VERGANGENHEIT


AUS DER STADTHISTORIE
Weltweit wohl einzigartig: Der Staat Preußen, der für Zucht und Ordnung steht, ordnet hier Bordellbetrieb an.

plus Variable B
TIME-FREEZE


BETRIEB IST AUS DER ZEIT GEFALLEN
Das Gewerbe ist eingeschlafen, das Areal liegt brach. Unterbrechung mit Zeit und Ruhe für Neuorientierung.

plus Variable C
GEGNER KALTGESTELLT


ALLE OPTIONEN ALLEIN BEI DER STADT
Die Kräfte des Marktes sind lahmgelegt. Durch den Zwischenerwerb bestimmt allein die Stadt, was passiert.

gleich Variable D
EINMALIGE CHANCE ALS SUMME


POTENZIAL ZUM GAME CHANGER
Die Chance, den Lauf der Dinge entscheidend zu verändern – zum Vorteil der Stadt. Etwas, das man nicht vergeigen sollte.

Um nichts anders ist das Areal der HafenCity strategisch aufgestellt. Operativ natürlich in einer anderen Größe als das Rampenloch – mit einem anderen Narrativ – in einem ganz anderen Umfeld – mit anderen Playern. Aber in seinem inneren Kern doch vollkommen identisch.

Wenn ein Elfmeter in der kleinen Jugendliga zum game changer werden kann, wenn er das Spiel drehen kann, genauso wie in der großen Champions League, dann kann auch das Rampenloch eine Wirkung für Minden entfalten wie es die HafenCity für Hamburg tut.

Das zu erkennen ist Gold wert. Das umzusetzen bedarf Klugheit. Dass das Politik und Verwaltung gelingt, scheint mehr als zweifelhaft. Einfach die falschen Leute auf dem Platz. Die werden den Elfmeter nicht reinkriegen. Die werden es vergeigen. Die gehören aus dem Spiel genommen. Und zwar sofort! (Siehe auch Kommentar unten.)

Vier Variablen in einer festen Formel: Die Strategie-Gleichung bei der

HAFENCITY

Variable A
BASIS VERGANGENHEIT


AUS DER STADTHISTORIE
Der ehemalige Hamburger Hafen – die Grundlage für den wirtschaftlichen Erfolg der Stadt.

plus Variable B
TIME-FREEZE


BETRIEB WAR AUS DER ZEIT GEFALLEN
Das Containergewerbe hat den Hafenbetrieb komplett verändert. Der alte Hafen war in die Brache gefallen.

plus Variable C
GEGNER KALTGESTELLT


ALLE OPTIONEN ALLEIN BEI DER STADT
Die Stadt Hamburg hatte heimlich alle wichtigen Grundstücke erworben und so dem Markt entzogen.

gleich Variable D
EINMALIGE CHANCE ALS SUMME


AUFERSTEHUNG ALS GAME CHANGER
Die HafenCity hat die Wahrnehmung Hamburgs in Europa und weltweit verändert. Chance erfolgreich genutzt.

KOMMENTAR VON EDGAR WILKENING

 

Wer einen Elfmeter nicht erkennt, hat nichts auf dem Feld verloren. Sofort raus aus dem Spiel, sofort runter vom Platz!

 

Der Ausschuss für Bauen, Umwelt und Verkehr der Stadt Minden, die Mindener Stadtverordnetenversammlung, auch die Verwaltung, die das Verfahren mit einem Baubeigeordneten begleitete – sie alle haben für das Areal am Rampenloch die einfältigste, die unwirtschaftlichste, die gesichts- und geschichtsloseste Variante abgenickt und beschlossen.

Jeder einzelne, der am Zustandekommen des jetzigen Plans mitgewirkt hat, sei es durch sein „Ja“ im Ausschuss am 13. Februar 2019 (zehn Ja-Stimmen) oder in der Stadtverordnetenversammlung am 28. Februar 2019 (45 Ja-Stimmen) oder durch Unterstützung von Verwaltungsseite, hat damit bewiesen, was er in Sachen Elfmeter-Chance draufhat.

Sie alle hatten den Ball auf dem Elfmeterpunkt liegen, sie alle hatten die Chance vor ihren Füßen – und dann haben sie sie NICHT verwandelt. Nicht unten links ins Tor gebrettert, nicht oben rechts, auch nicht ab durch die Mitte. Ganz gleich, für welche operative Lösung man sich in der konkreten Umsetzung entschieden hätte: Hauptsache aufs Tor.

Aber schlimmer noch: Sie haben den Ball nicht mal aufs Tor geschossen! Nicht mal in seine Richtung gekullert. Nicht mal darüber nachgedacht. Offenbar nicht mal bemerkt, dass sie da einen Elfmeter liegen haben. Nicht mal geahnt, was das eigentlich sein könnte. Und dass das Runde ins Eckige gehört.

Denn bis zum heutigen Tage gibt es keinerlei politische Willensbekundung von Stadt oder Rat, das Rampenloch-Areal nach seiner Historie, seiner Bedeutung und seinen besonderen Möglichkeiten zu entwickeln. Stattdessen nur ein bissel lustloses Rumgekicke mit der Pille. Ein politisches Armutszeugnis auf Weltmeister-Niveau.

Wer im Fußball nicht weiß, was ein Elfmeter ist und wie man damit umzugehen hat – der gehört runter vom Feld. Und zwar sofort! Ohne Ausnahme. Ohne Wenn und Aber. Sofort raus aus dem Spiel! Bevor er noch mehr Schaden anrichtet. In Minden ist es allerhöchste Zeit zum Auswechseln.

Politische Willensbekundung als gestalterisches Instrument

Starkes Profil als Kommune – oder profilloses Mauerblümchen? Der Unterschied ergibt sich vor allem aus echtem politischen Gestaltungswillen statt schlichtem Geschehenlassen. Ein Praxisbeispiel.

Wie abgehoben agiert Politik heute von den Bürgern?

Kommentare im Facebook-Threat des Mindener Tageblatts belegen: Was sich Bürger wünschen und was Politiker planen, könnte kaum weiter auseinander liegen – nicht nur in Berlin, sondern auch vor Ort auf Kommunalebene.

Wie würden Mindens Stadtplaner in dieser Situation reagieren?

Hamburgs Stadtplanern unterläuft ein fataler Fehler – doch die Reaktion ist klug und umsichtig. Spannend zu sehen: Wie würde in einer ähnlichen Situation Mindens Stadtplanung reagieren?

Edgar Wilkening